Die Engerer Burse ist ein taschenförmiges Bursenreliquiar (Taschenreliquar) der Karolingerzeit aus dem Schatz der Stiftskirche St. Dionysius zu Enger bei Herford (Nordrhein-Westfalen). [1] Seit 1888 befindet es sich im Kunstgewerbemuseum Berlin (Inventar-Nr. 1888,632), zusammen mit den weiteren Stücken dieses Kirchenschatzes. [2]
Beschreibung[]
Die Engerer Burse stammt vermutlich aus dem Besitz des Sachsenherzogs Wittekind. Die Überlieferung bringt das Reliquiar mit jenen kostbaren Geschenken in Zusammenhang, die Karl der Große gemäß dem Chronicon Moisiacense ihm bei dessen im Jahre 785 vollzogener Taufe übergab.
Wenn man auch in der Regel allen Anlass hat, solchen örtlichen Überlieferungen Vorsicht entgegenzubringen, so ist doch in diesem Fall gegen den Hinweis auf den großen Kaiser nichts Erhebliches einzuwenden, da es sich in der von Wittekind gegründeten Stiftskirche zum heiligen Dionys, zugleich der Grabkirche des Herzogs, bis zu deren Aufhebung erhielt.
Die Bestimmung des Herstellungsortes bleibt der Vermutung überlassen; aber es liegt nahe, wenn man die Tradition von dem Taufgeschenk Kaiser Karls annimmt, an Aachen zu denken, wo die bedeutendsten seiner Kunstwerkstätten sich befunden haben.
Aufbau[]
Dieses Taschenreliquar ist 16 cm hoch, 11 cm breit und 5 cm tief. Es ist das Werk eines fränkischen Goldschmieds, der die Musterung der Vorderseite wesentlich durch ein goldenes Bandgeschlinge in Cloisontechnik (mit opaken Glaspasten) samt eingefügten Gemmen und gemugelten Steinen bestritt. Dazwischen liegen 10 Zellenschmelze byzantinischer Art, doch mit den Darstellungen eines Vogels, eines Fisches und einer Schlange in germanischer Stilisierung angeordnet.
Auf der Rückseite sehen wir Christus zwischen zwei Engeln und Maria zwischen zwei Heiligen unter Arkaden, alles in silbergetriebener und vergoldeter Arbeit, auf dem Kamme fünf Löwenfiguren von germanischer Formengebung.
Die getriebenen lockeren Bandverschlingungen der Unterseite, die germanische Treibarbeit, mittels der aus dem Silberblech der Rück- und Schmalseiten sechs Halbfiguren unter Rundbogen herausgearbeitet sind, die Fassung der Edelsteine, die derjenigen am sog. „Gebetbuch Karls des Kahlen“ gleicht, und die Form der Bursa weisen auf die karolingische Zeit.
Kunstgeschichtliche Einordnung[]
Von hoher Bedeutung für die Entwicklung der Goldschmiedekunst ist die Schauseite, deren Fläche durch die kreuzförmige Anordnung der Edelsteine ähnlich wie auf dem Taschenreliquiar von Monza gegliedert ist. Die Gemmen verbindet ein Netz gerader und gekrümmter Goldstreifen, die nach hergebrachter Übung mit flachen roten und grünen Stein- und Glasplättchen meist viereckiger Form in regelrechtem Zellenmosaik belegt sind. Gleichen Steinbelag enthalten vier Zwickelfelder am Kreuzesschaft.
Die technische Ausführung der Zellen ist im Vergleich mit älteren Arbeiten, wie dem Schwert und den Schmuckstücken König Childerichs in Paris und dem Diptychon der Königin Theodelinde (um 570-627 n. Chr.) in Monza, merklich unbeholfener. In die mosaikumrahmten Felder sind goldene Kästchen eingelassen, welche die ersten einigermaßen genau datierbaren Beispiele von echtem Zellenschmelz in Deutschland darstellen.
Jedes der zehn Felder enthält in Email auf Emailgrund die Darstellung eines Tieres, im ganzen vier Vögel, vier Schlangen und zwei Fische in symmetrischer Gegenüberstellung. Die Glasflüsse füllen nicht nur die Zeichnung, sondern auch die durch Zellen zerlegte Grundfläche bis an den Randsteg jedes Kästchens.
Die Ausführung der Schmelzarbeit lässt in all und jedem die absolute Anfängerschaft, das mühsame Ringen mit einer noch ungewohnten Technik deutlich erkennen. Die undurchsichtigen Schmelzfarben sind trotz der trennenden Goldstege innerhalb ihrer Zellen ganz durcheinandergemischt, so dass sie die Zeichnung nicht durch den Farbenkontrast hervorheben; man ist vielmehr gezwungen, in genauer Betrachtung die goldenen Stege zu verfolgen, um die Tierbilder zu erkennen. Die Zeichnung selbst ist primitiv und die dicken Stege nicht in reinen Linien gebogen.
Die auffällige Vermischung der weißen, roten, hell- und dunkelblauen Emailfarben, die den Mangel eines Vorrates reiner Glasflüsse vermuten lässt, ruft mehrfach jene Anweisung des Theophilus in der Diversarum artium schedula in Erinnerung, nach welcher Emailleure und Glasmaler besonders in Frankreich die farbigen Glaswürfel antiker Mosaiken und römische Glasgefäße als Schmelzmaterial für sonst schwer zu erreichende Farben in ihren Betrieben verarbeiteten.
Das Wittekind-Reliquiar als ein Werk der Stadt römischer Bäder könnte in der Tat als eine Bestätigung des Rezeptes des Theophilus erscheinen, wenn nicht das Bedenken aufstiege, dass der Verfasser der Schedula nur von der Arbeitsweise seiner Zeitgenossen spricht und dass er von karolingischer Kunstübung aus dem Ende des 8. Jhds, die zum mindesten 200 Jahre vor seiner Zeit lag, schwerlich mehr Nachricht haben konnte.
Wahrscheinlich empfing der Verfertiger des Reliquiars Herzog Wittekinds die Anregung zu seinem Versuch, Zellenschmelz herzustellen, von einer byzantinischen Schmelzarbeit. Mehr als die technische Anregung sah er dieser Quelle aber nicht ab. In der Zeichnung seiner Zellenschmelze blieb er der heimischen Überlieferung treu, denn Motive wie Vögel, Schlangen und Fische finden sich auf frühem Zellenschmelz von Byzanz nicht vor.
Verwandte Stücke[]
Dieses karolingische Bursenreliquiar nimmt eine gewisse Mittelstellung bzw. einen Wendepunkt in der Entwicklung der fränkischen Goldschmiedekunst ein. Solche Reliquienkästchen in Form einer bursa bzw. Pilger- oder Umhängetasche sind in der karolingischen Epoche entschieden beliebt gewesen und dienten wohl meist als Behältnisse für die mit dem Blut eines heiligen Märtyrers getränkte Erde. Ähnliche Exemplare finden sich:
- im Dom von Monza, hier als „Zahn Johannes des Täufers“ bezeichnet,
- im Domschatz zu Chur, aus Silber und vielleicht, wie das in Monza, langobardische Arbeit von volkstümlichem Gepräge,
- als „Stephansbursa“ in der Kaiserlichen Schatzkammer in der Hofburg zu Wien, die dem Grabe Karls des Großen entnommen ist und ihm gemäß den Lorcher Annalen bei der Beisetzung umgehängt worden war,
- im Musée de Cluny (Musée national du Moyen Âge) zu Paris,
- in den Kirchen von St. Maurice (Kanton Wallis), Saint-Bonnet-Avalouze und Saint-Benoît-sur-Loire. Beide mit rohen Zeichnungen, in vergoldetes Kupfer getrieben.
Nach Form und Art verwandte, z. T. spätere Stücke sind auch die Reliquienkästen:
- das Reliquiar von Utrecht mit Zellenmosaik im bischöflichen Museum der St. Katharinen-Kathedrale,
- im Chorherrenstift St. Michael Beromünster,
- in der Kirche zu Mettelen in Westfalen
- die „Willibrordi-Arche“ (Arche des hl. Willibrord) zu St. Martini (Emmerich) u. a. m.
Nachdem 9. Jhd. wird die Taschenform viel seltener, obwohl sie im 12. Jhd. mehrfach auftaucht (Servatiuskirche in Maastricht, Kunstgewerbe-Museum in Köln) und vereinzelt sogar noch im 14. Jhd. vorkommt (Kestner-Museum in Hannover).
Galerie[]
Quellen[]
- Falke und Frauenberger, Deutsche Schmelzarbeiten des Mittelalters und andere Kunstwerke der kunst-historischen Ausstellung zu Düsseldorf 1902 (Internet Archive). Frankfurt a. M. : Joseph Baer & Co., 1904. S. 2 (Tafel 1).
- Hoops, Johannes. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA). 1. Auflage, 4 Bände. K. J. Trübner, Straßburg 1911-1919. Bd. II, S. 288 ff. (Goldschmiedekunst, § 48.)
Einzelnachweise[]
- ↑ Wikipedia: Engerer Burse
- ↑ Reliquiar in Bursenform aus dem Schatz des Stiftes St. Dionysius zu Enger/Herford in der Online-Datenbank der Staatlichen Museen zu Berlin.