Unter Gnostizismus bzw. Gnosis (von gr. '(Er-)Kenntnis') versteht man verschiedene religiöse u. philosophische Lehren bzw. Gruppierungen im 2. und 3. Jh. (teils auch früher), die auf dem Christentum basieren. Man bezeichnet den Gnostizismus mitunter auch als einen der ersten Versuche, dem Christentum zur Zeit der Kirchenväter eine tatsächliche Philosophie zu geben (s. Patristik).
Beschreibung[]
Schon an einigen Stellen des Neuen Testaments (Matth. 13, 11 und 1. Cor. 2, 10) wird gegenüber dem Glauben (pistis) die Erkenntnis (gnôsis) der göttlichen Weisheit als höhere Stufe des Christentums betrachtet. Gleichzeitig wurde in den Briefen wie in der Offenbarung auch vor ihr gewarnt, wenn sie sich vom kirchlichen Christentum absonderte. Doch erst im 2. Jh. gewann die Gnosis größere Bedeutung. Die Gnostiker wollten das Christentum zur absoluten und zugleich zur Weltreligion machen, indem es neben der alt-testamentlichen Religion und dem Gemeindeglauben durch seine Vergeistigung auch Ansichten der hellenischen Philosophie und Mysterienglauben, genauso wie orientalische Weisheiten in sich aufnahm. Ihr Problem galt vorallem der Überwindung des inneren Widerspruches zwischen der Schöpfung der Welt durch einen allgütigen Gott und der doch vorausgesetzten Erlösungsbedürftigkeit.
Vorläufer[]
Die Vorläufer des Gnostizismus treten zu Anfang des 2. Jhs. in den von jeher zum religiösen Synkretismus neigenden Ländern Vorderasiens auf. Lehrer wie Cerinth (um 115 in Kleinasien) gingen zunächst vom Judentum aus, von dem sie annahmen, dass es nur sittlich und spekulativ zu läutern sei. Der von den Juden verehrte Weltschöpfer und Gesetzgeber sei nur der Vorbereiter für den unnennbaren höchsten Gott, der sich als »Christus« oder heiliger Geist bei der Taufe auf den Menschen Jesus niedergelassen habe.
Die Syrer Satornil (mit dem Doketismus) und Cerdo fügten noch eine Reihe Engel und Dämonen hinzu, um die Kluft zwischen der namenlosen und unerkennbaren höchsten Gottheit und der Materie, dem Reich des Satanas, auszufüllen. Die gleichfalls syrischen Ophiten ("Schlangenverehrer") sahen in der Schlange des Paradieses, der ehernen Schlange des Moses und in Christus das gleiche, von dem neidischen Judengott erlösende Prinzip wahrer Gotteserkenntnis. Karpokrates aus Alexandrien und seine Anhänger verbanden damit mehr hellenische, platonische und pythagoreische Elemente. Sie bekränzten in ihren Schulen das Bild Jesu zusammen mit denen des Pythagoras, Plato und Aristoteles. Von ihren kirchlichen Gegnern wurden sie eines weitgehenden Kommunismus beschuldigt.
Basilides und Valentinus[]
Der um 130 in Alexandria lehrende Basilides (ca. 85-145) beschrieb ein System göttlicher Kräfte in 365 von einander abgestuften himmlischen Sphären, von der obersten des unaussprechbaren, namenlosen Urgrunds, »der noch nicht Gott war« und den Samen des Alls erzeugte, in zahllosen »Sohnschaften« herab bis zu der von Jehovah regierten Sphäre der Menschen. Das göttliche Erlösungswerk Jesu und zugleich die sittliche Aufgabe des Menschen bestand ihm zufolge in der Trennung des Geistigen von der Mischung mit dem Materiellen. Wahre Weisheit und Erlösung brachte nur der Glaube an Christus als Geist (nous).
Das umfassendste überlieferte gnostische System war das von Valentinus († nach 160), der um 135 von Alexandria nach Rom kam. Besonders unter den Gebildeten fand er zahlreiche Anhänger, auch wenn er als Ketzer aus der Gemeinde ausgeschlossen wurde. Nach ihm war der Urgrund der Dinge die ewige und ungewordene Einheit, das Unnennbare, die Tiefe, der vollkommene Äon, auch Vater oder Vor-(Ur-)Vater genannt. Er erzeugte aus Bedürfnis nach Liebe, nach einigen mit der »Stille des Gedankens« als Gattin, den Geist (nous) und die Wahrheit. Ihnen entsprossen Vernunft (logos) und Leben, aus diesen wiederum der ideale Mensch und die ideale Kirche, und weitere Paare, darunter auch Christus und der Heilige Geist. Die Gesamtheit aller 30 Äonen (Geister) nannte Valentinus das "Pleroma", d.h. die Fülle (der Geisterwelt).
Pistis Sophia[]
Bedeutsam ist daneben die Kosmogonie der "Pistis Sophia", in der eine romanhaft ausgeführte Leidensgeschichte des jüngsten der Äonen, der Sophia oder menschlichen Weisheit, ausgeführt wird, die an die alexandrinische Theosophie erinnert. Sie strebte in sündiger Überhebung nach unmittelbarer Vereinigung mit dem Urvater, brachte aber nur ein unvollkommenes Wesen hervor. Sie wurde dann von dem »Grenz«-Äon über ihre Schranken und die Unerkennbarkeit des Urgrundes belehrt, ihr leidenschaftliches Sehnen von ihr abgelöst und als ihre Tochter oder niedere Weisheit, auch Achamoth genannt, in die der himmlischen »Fülle« entgegengesetzte »Leere« verbannt, wo sie den irdischen Weltbildner nach Plato »Demiurgos« benannt und die Welt des Stoffes gebar.
Daher die heiße Sehnsucht nach dem Himmlischen in allen Wesen und Dingen dieser Erde (vgl. das biblische »Seufzen und Harren« der Kreatur). Auch die Menschenwelt zerfällt in verschiedene Abstufungen: die Stoffmenschen (Hyliker), die »Seelen-Menschen« (Psychiker) und die Pneumatiker oder reinen Geistesmenschen. Zu ihrer Erlösung ist der irdische Christus auf die Welt gekommen, in dem der himmlische eine Zeitlang leibliche Gestalt annahm; er will die Geistesmenschen zur wahren Erkenntnis (gnôsis) und zum wahren Ursprung, dem Reich des Lichts, zurückführen. Die Psychiker bleiben mit dem Demiurg an dem Ort der Mitte; die Stoffmenschen und die gesamte Stoffwelt samt dem Widerspiel des Demiurgen, dem Bösen oder Teufel, werden der Vernichtung anheimfallen. [1]
Spätere Gnostiker[]
Spätere Gnostiker, wie Bardesanes (154-222), d. h. Sohn des Daisan (geboren am Fluss Daisan bei Edessa), lenkten die Gnostischen Lehren wieder einfacheren, der Kirchenlehre näherstehenden Anschauungen zu. Bardesanes legte besonders auf die menschliche Willensfreiheit Gewicht. Im übrigen ist die gnostische Ethik in ihrem scharfe Gegensatzg von Geist und Materie wesentlich asketisch ausgerichtet; nur bei wenigen scheint dieses Prinzip zu einer völligen Gleichgültigkeit gegenüber den "Fleischessünden" geführt zu haben.
Daß auch viele Schwindler, Magier, Wahrsager, Geldschneider und Taschenspieler, Betrüger und Mucker in den Gnostizismus drängten, ändert nichts an den philosophischen Grundgedanken, die hinter der nach Platos Muster mythisch gestalteten, zuweilen, besonders bei Valentin, wirklich geistvollen, häufig recht phantastischen Einkleidung liegen:
- 1. Entwicklung des gesamten Universums aus dem Urgrund in unendlichen Abstufungen;
- 2. Erlösung der unvollkommenen, in Sünde und Verdammnis versunkenen Welt durch Wiedererhebung zu ihrem göttlichen Urquell.
Daneben erwarben sich die Gnostiker auch noch andere Verdienste um die junge Kirche. Sie stellten einen neuen Kanon christlicher Schriften auf und bearbeiteten ihn nicht bloß durch allegorische Umdeutung, sondern auch mit den Mitteln philologischer Kritik und Exegese. Sie wurden so zu den Begründern der christlichen Dogmatik, Ethik und Exegese.
Ablehnung durch das Christentum[]
Trotzdem lehnte das Christentum des 2. Jhs. den Gnostizismus, obwohl dieser das wahre, geistige Christentum darzustellen versuchte, und sich auf eine Geheimlehre der Apostel berief, ab. Grund war, dass wesentliche Züge des ursprünglichen Jesu-Christentums durch die Gnostische Lehre umgestaltet und verzerrt wurden. Die eine Gottheit wurde in eine Unzahl göttlicher Wesen aufgelöst, der sittlich-religiöse Grundgedanke erhob sich ins Philosophisch-Mystische, die biblischen Heilsverkündungen wurden ins Symbolische umgedeutet, und vor allem wurde die Erlösung nur auf die gnostischen Auserwählten beschränkt. Weniger durch theoretische Widerlegung, als durch ihre um diese Zeit erfolgende festere Organisation (bischöfliche Verfassung) gelang es der aufstrebenden Kirche, die Gnostische Lehre, soweit diese nicht freiwillig "in ihren Schoß zurückkehrte", zu verdrängen. Jedoch enstand im Zuge dieser Konkurrenz nicht nur eine kirchlich-theologische Literatur, sondern die Kirche selbst nahm viele Aspekte der Gnosis in sich auf.
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Quellen[]
- Geschichte der Philosophie, Band 1 (Zeno.Org). Karl Vorländer. Leipzig 1903. 5. Auflage, Leipzig 1919. S. 207 ff.: Die Philosophie des Mittelalters.
- Koptisch-gnostische Schriften (Internet Archive). Hrsg. Carl Schmidt. Im Auftrag der Kirchenväter-Commission der Königl. Preussischen Akademie der Wissenschaften. Leipzig J.C. Hinrichs, 1905.
- Dokumente der Gnosis (Internet Archive). Wolfgang Schultz. Jena : E. Diederichs, 1910.
Einzelnachweise[]
- ↑ Pistis Sophia - Bücher des Erlösers. Ein gnostisches Originalwerk des dritten Jahrhunderts aus dem Koptischen übersetzt - Hrsg. Carl Schmidt, Leipzig 1905.