Mittelalter Wiki
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Westtürme, auch Lincolnshire-Türme genannt, sind in der angelsächsischen Kirchenbaukunst zahlreicher als irgendeine andere architektonische Form vertreten. Es gibt ca. fünfundsiebzig an der Zahl, und die Tatsache, dass mehr als sechzig in den östlichen Gegenden Englands liegen, gab Anlaß verschiedenen Vermutungen.

Beschreibung[]

Die westlichen angelsächsischen Kirchtürme sind besonders zahlreich in Lincolnshire, wo sich ungefähr dreißig davon finden, und deswegen auch häufig der Name „Lincolnshire-Türme" gebraucht wird. Nun war Lincolnshire eine Gegend, die den Angriffen der Wikinger besonders ausgesetzt war, und da es eine anerkannte Tatsache ist, dass die Wikingereinfälle in Irland die bestimmende Ursache für die Errichtung der irischen Rundtürme waren, so lautet eine Vermutung, dass die Westtürme des 'Lincolnshire'-Typus einen ähnlichen Ursprung gehabt haben und als Zufluchts- oder Verteidigungsstätten bei Wikingerzügen dienten.

Die Chronologie steht dieser Theorie allerdings im Wege, da die erhaltenen Lincolnshire-Türme sehr späten Stils sind und zu einer Zeit erbaut wurden, wo die Wikingereinfälle vorüber waren. Überdies, wenn der Hauptzweck bei der Errichtung dieser Art von Türmen Zuflucht oder Verteidigung gewesen wäre, so würde das Aussehen der noch vorhandenen Bauten den Ursprung und den Zweck verraten. Es hätte irgendetwas an ihnen gegeben, was auf eine Benutzung für Zufluchts- und Verteidigungszwecke hingewiesen hätte.

Merkmale[]

Die irischen Rundtürme bewahren durchaus die besonderen Merkmale, die ihren ursprünglichen Zweck zur Verteidigung offenbahren: das solide Fundament und den Türeingang auf einem oberen Niveau, den man nur mittels einer beweglichen Leiter erreichen kann.

Nun haben alle angelsächsischen Westtürme vom 'Lincolnshire'-Typus Turmbögen von geräumigen Dimensionen, die auf dem Untergeschoß in das Mittelschiff führen, und etwa die Hälfte von ihnen hat auch äußere Türeingänge auf demselben Niveau. Demnach konnte ein Feind immer Zutritt in das Untergeschoß des Turms erlangen, und wenn das geschah, so hatte er das gesamte Gebäude mit allem, was darin war, in seiner Gewalt.

In keinem anderen Fall, als in der St. Peter's Church, Monkwearmouth (wo der untere Teil eine westliche Vorhalle ist), ist das Untergeschoß des Turms in Stein gewölbt. Auch die hölzernen Fußböden würden den Leuten in den oberen Geschossen keinen Schutz gewähren; sie konnten von unten aus durch Feuer oder Rauch angegriffen werden. Aus der Tatsache, dass einige angelsächsische westliche Türme im Grundriss rund sind, kann man keinen Zusammenhang zwischen ihnen und den runden Türmen Irlands herleiten.

Solche angelsächsische runde Türme kommen hauptsächlich in Norfolk und Suffolk vor, was der Tatsache zuzuschreiben ist, dass in diesen Gegenden die Quader für die Ecksteine, mit denen es die angelsächsischen Baumeister immer genau nahmen, nicht zur Verfügung standen. All diese Merkmale sprechen gegen den Gedanken, der die Kirchtürme des angelsächsischen Englands mit Zufluchts- oder Verteidigungstätten in Verdindung bringt.

Ursprung der Westtürme[]

Es ist bekannt, dass alleinstehende westliche Türme mit oder ohne Treppentürmchen charakteristisch für die Baukunst Westfalens und der Landschaften des Unterrheins sind, verhältnismäßig selten dagegen in anderen Bezirken der romanischen Architektur. Der französische Architekt Victor Ruprich-Robert (1820-1887) stellte z. B. fest, dass solche westlichen Türme in der Normandie nur ausnahmsweise vorkommen. [1]

Der westliche Turm war im Bauplan der Kirchen in den späteren sächsischen Zeiten ein so wesentliches Element, dass die Normannen ihn von den besiegten Angelsachsen übernahmen. Und dieser Westturm blieb eine Eigenart sowohl englisch-normannischer Kirchen als auch derer in den spätmittelalterlichen Stilarten. Der alleinstehende westliche Turm der normannischen Kathedrale von Ely z. B. ist ein angelsächsisches Überbleibsel.

Datierung[]

Das Übergreifen der angelsächsischen Elemente auf den normannischen Baustil nach der Eroberung 1066 und das Fehlen der speziell angelsächsischen Merkmale an den meisten Türmen legt nahe, dass die ungefähr sechzig Lincolnshire-Türme zur spätesten sächsischen Periode (11. Jh.) der Angelsächsischen Kirchenbaukunst gehören - Der Regierungszeit Eduards des Bekenners (1042-1066), wo der Kirchenbau sehr emsig betrieben wurde.

Es bleiben ungefähr fünfzehn andere Kirchtürme übrig, in denen sich der Eckverband aus Quadern (Long-and-short work), Lisenen und doppelt ausgeschrägte Fenster mit Mittelmauersäulenschäften der sächsischen Tradition finden. Diese gehören zu einer früheren Periode der Angelsächsischen Kirchenbaukunst: vielleicht der Zeit Knuts des Großen (um 1020), wo viele Kirchen wieder aufgebaut wurden, die in den letzten Wikinger-Unruhen zerstört worden waren. Vielleicht gehören sie sogar einer noch früheren Epoche, der letzten Hälfte des 10. Jhs. an, wo unter König Edgar (957-975) und seinen Nachfolgern eine große religiöse- und als Folge davon architektonische - Renaissance im Gange war.

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Quellen[]

Einzelnachweise[]

  1. Ruprich-Robert, Victor. L'architecture Normande, S. 97