Merkverse, Memorial- oder Katalogdichtungen sind eine Gattung der altgermanischen Dichtkunst. Solche einfachen kurzen Versreihen dienten als Gedächtnishilfe und umfaßten mythische und heroische, geschichtliche und völkerkundliche Inhalte. Sie scheinen den Germanen von Alters her vertraut gewesen zu sein.
Beschreibung[]
Den Nachdruck legten die Germanen bei ihren Merkversen auf das Tatsächliche, zumeist die Namen, und unterschieden sich dadurch von den höheren Gattungen des höfischen Lobgedichtes und des epischen Liedes. Den kurzen Versen fehlte die gehobene Lyrik, die feierliche Diktion, und die epische Fabel mit ihrem reichen Aufbau und ihren dramatischen Repliken. Die einfachsten Verse dieser Art stammen aus Island und beschränkten sich ganz oder nahezu auf Namen: die þulur (vgl. wnord. þulr - der 'Sprecher').
Sie tauchen teils als Einschiebsel in größeren Gedichten (wie z.B. Völuspa, Grímnismál) auf, oder in Prosasagen (Fornaldar sögur I, 379 ff.), teils als eigene umfängliche Sammlungen in den Abschriften der Snorra Edda (über 2500 Vokabeln). Hervorzuheben ist der kleine Königskatalog Eddica Minora (Nr. XX A) wegen seiner stilistischen Ähnlichkeit mit der Widsith-Dichtung. Ohne scharfe Grenze nähert es sich da und dort dem Epischen und Belebteren (vgl. Völuspa, 30; 17. 18). Kosmogonische Strophen . ä, wie wir sie als Zutaten oder Bausteine umfangreicherer Gedichte kennen, haben gewiß seit Urzeiten als Gefäße dieses lehrhaften Inhalts gedient.
Mono- u. dialogische Kompositionen[]
Dagegen stehen die großen mono- oder dialogischen Kompositionen mit sagenhaften Sprechern und Rahmenerzählung (Vafþrúðnismál, Grímnismál, Hyndlulioð, Alvíssmál) auf viel jüngerer Stufe. Der bedeutsame englische Vertreter dieser Klasse, der Widsith, ist ebenfalls ein breiter angelegtes Werk mit episch-lyrischer Einkleidung, nur ist diese nicht sagenhaft, sondern dem Leben nachgebildet und darin altertümlicher. Die Zusammenleimung aus kürzeren Merkversreihen ungleicher Stilisierung ist noch ein wenig zu erkennen. Auch hier geht es zuweilen in ein summarisches, redeloses Erzählen über. Ein Merkgedicht mit eigenartigem Inhalt ist das altenglische Runenlied (Cotton. Otho B 10) [1], von dem zwei späte nordische Runenkataloge abhängen.
Ein Beispiel für diese Gattung findet sich bei Tacitus (Germ, c. 2): "Sie preisen in alten Liedern, bei ihnen die einzige Art der Überlieferung und der Geschichte ... seinen Sohn Mannus... (und dessen drei Stammhaltersöhne)." [2] Eine episch-dramatische Götterfabel kommt hier nicht in Frage. Aber auch ein Hymnus war weniger geeignet für diese genealogischen Daten. Wir denken an Merkverse, die neben den ritualen Hymnen die ursprüngliche Kunstform der Mythenüberlieferung darstellen.
Merkverse passen gut auf die Beschreibung dieser Dichtung, wo eine entwickelte erzählende Kunst, in Versen oder Prosa noch fehlt. Auch bei Jordanes (c. 14) finden sich die ältesten gotischen Fürstenahnen, beginnend mit 'Gapt', und "wie sie ihre Geschichten erzählen" in kurzer Versform. An Heldenlieder ist für diese frühesten Glieder nicht zu denken. Auch während der Gotenwanderung ans Schwarze Meer berichtet Jordanes davon "wie sie gemeinsam im Ritus an ihre frühen Lieder erinnern". Diese Lieder enthielten, wie Jordanes Wanderungsbericht zeigt, neben den reinen Namen auch ziemlich viel Geschehen, doch waren keine epischen Fabeln.
Historische Berichte[]
Auch manche Berichte aus der historischen Zeit kann man auf Merkversreihen zurückführen. Was sie trotz gelegentlicher poetischer Steigerung von der Heldensagen (wie Ermanaricus-Sunilda) scharf trennt, ist das Fehlen des persönlichen, unpolitischen Konfliktes. In dem Brief von Bischof Daniel von Winchester († 745) an Bonifazius, 723-725, spricht er von "ruchlosen Riten und Sagen" der heidnischen Deutschen und im Zusammenhang damit von ihren kosmogonischen Vorstellungen. Es ist wahrscheinlicher, dass er dabei Verse meinte, einzelne Weltschöpfungsstrophen der oben erwähnten Art, als ein so hochkunstmäßiges Gebilde wie die Völuspa.
Die Origo gentis Langobardorum (7. Jhd.) bringt aus der vorheroischen Zeit die Volkserzählungen mit fortlaufenden Reimstäben, zum Teil von der katalogisierenden Art des Widsith. Das 1. Kap, die heitere Wodan-[Freya]geschichte, enthält allerdings vier Repliken in oratio recta; auch im übrigen ist es eine belebtere, genrehaftere Art mit wenig Namensballast. Wir stehen hier an der Grenze der memorialen Gattung. Es mag sein, dass die Kunst des epischen Liedes herübergewirkt hat. Doch ist der Abstand sehr groß von einem Götter- oder Heldengedicht wie das Thrymskvidha oder Völundarkvida.
Die Merkverse mit ihrer nüchtern unsanglichen Art sind durchaus für den Einzelvortrag bestimmt. Man kann man nicht aus dem religiösen Hymnus ableiten. Dass die Stücke mythischen Inhalts von Priestern bei ritualen Handlungen verwendet wurden, ist denkbar; die nordischen Reste entscheiden darüber nicht. Die Merkverse bestanden weiter neben der jüngeren Kunstform des epischen Götter- und Heldenliedes und verhielten sich zu diesen Dichtungen sowohl gebend wie nehmend. Der Widsith ist in manchen seiner Teile nicht eine Vorarbeit, sondern ein Auszug, ein Register zu heroischen Liedern.
Runeninschriften nichtritualen Inhalts[]
Eine weitere Gattung der Memorialdichtung bilden die Runeninschriften nichtritualen Inhalts. Sie bezeichnen meist den Verfertiger oder Besitzer eines Gerätes oder, häufiger, Grab- und Gedenkinschriften. Sie haben in Nordeuropa, besonders Dänemark und Schweden, nicht ganz selten metrische Prägung und mitunter gehobene Sprache. In der Künstlerinschrift auf einem der Goldhörner von Gallehus (4./5. Jh.) "ek hlèwagàstiR hóltìjaR | hórnà táwiðó" darf man die älteste germanische Langzeile erkennen. Eine Art Grab- oder Denkmalsepigramm möchte man auch die Dietrichstrophe der schwedischen Inschrift auf dem Runenstein von Rök (c. 900) nennen. Ähnlich stilisiert sind einige Strophen des skaldischen Stammbaumgedichtes Ynglingatal. Die Verszeilen auf dem altenglischen Runenkästchen von Auzon sind keine Inschriften im technischen Sinne.
Quellen[]
- Geschichte der deutschen Literatur: ein Handbuch (Google Books). Wilhelm Wackernagel. 2. Ausgabe. Schweighauserische Verlagsbuchhandlung, 1879
- Geschichte der deutschen Litteratur bis zum Ausgange des Mittelalters (Internet Archive). Rudolf Kögel. Strassberg : Trübner, 1894. S. 97.
- Geschichte der altenglischen Literatur (Internet Archive). Brandl. Strassburg, K. J. Trübner, 1908. Bd. II, S. 941 ff.
- Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 4 Bände (1. Aufl.). Johannes Hoops. K. J. Trübner, Straßburg 1911-1919. Bd. I, S. 450 ff. (Art. Dichtung, §. 7D)
Einzelnachweise[]
- ↑ Angelsächsisches Runengedicht (Cott. Otho B 10). Old English Rune poem (destroyed in 1731)
- ↑ Tacitus, De origine et situ Germanorum (Germania). Übersetzung "Die Germania des Tacitus"'. Anton Baumstark: Freiburg 1876. Digitalisat auf Wikisource.