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Dass die Germanen im Altertum bereits eine Rechenkunst bzw. Arithmetik besaßen, geht aus gemeingermanischen Zahlenbezeichnungen hervor, sowie daraus, dass in ihrem Zahlensystem alle vier Rechenarten deutlich ausgedrückt sind (s. Zahlen, Zahlensystem, Bruchrechnung).
Beschreibung[]
Belege dafür, wie man mit den Zahlen gerechnet hat, sind spärlich, denn altgermanische Rechenbretter oder ähnliche künstliche Hilfsmittel beim Rechnen sind kaum überliefert. Allerdings fand man Steine oder Platten mit eingehauenen Löchern und Vertiefungen in einer solchen Gruppierung, daß man darin eine Zahlenoperationsangabe vermuten könnte.
Unsere Kenntnisse über die Rechenkunst der Germanen beschränken sich hauptsächlich auf die Klostergelehrsamkeit nach der Völkerwanderungszeit in Mitteleuropa und auf den Britischen Inseln, die wiederum auf klassischer Bildung beruhte.
Ein verstärktes Interesse an ausgeprägterer Rechenkunst scheint zuerst in der englischen Kirche angeregt worden zu sein und beruhte vor allem auf der Osterrechnung. Von den beiden im 5. und im 6.-7. Jh. n. Chr. in England entstandenen Kirchen hatte jede ihre spezielle Osterrechnung, und es kam 664 zu einer öffentlichen Disputation über dieses Thema. Der 668 ernannte Erzbischof von Canterbury, Theodor von Tarsus (602-690), hielt streng darauf, daß die Geistlichen in kirchlicher Festrechnung (Berechnung der beweglichen Kirchenfeste wie z.B. Ostern) unterrichtet wurden.
Dies geschah in den beiden von Benedict Biscop (628-690) in den Jahren 674 und 682 an der Grenze Schottlands errichteten Klöstern. Hier lebte Beda Venerabilis (672-735) und las die von Biscop aus Rom mitgebrachten Werke, z. B. Isidorus Hispalensis (560-636), Plinius, Macrobius Ambrosius Theodosius und Martianus Capella, die er zu seinen eigenen Werken benutzte. In einer der ältesten seiner Schriften "De Natura Rerum" (11) findet sich die älteste Multiplikation und Division eines germanischen Autors:
- „XII multiplia per IV fiunt XLVIII. Partire per novem, novies quini, quadragies quinquies. Quinque ergo... [et] ad nonas portiones tria remanserint",
- d. h. „12 X 4 = 48, 48 : 9, 9 X 5 = 45, ergo 5 + 3/9".
In dem 703 verfassten Werk "De Temporibus" kommen ähnliche Ausrechnungen und Rechenregeln vor. [1]
Fingerrechnung[]
In dem nach 716 erledigten Werke "De Temporum Ratione" finden sich ferner (Cap. 1) Angaben über die Fingerrechnung, für die Forscher jedoch keine Quelle angeben können, obwohl sie wesentlich mit der griechischen Fingerrechnung übereinstimmen. Beda gibt nur an, daß die Zahlen durch Fingergelenkstellungen zu bezeichnen sind, sagt aber nichts von der Rechnung selbst, die sich übrigens auf die vier Rechenarten beschränkte. Die Fingerrechnung stützt sich auf Memorialverse (cisio janus, auf Island fingrarím) und war unter den Germanen weit verbreitet. Auf Island, wo im 12. Jh. tǫlvísi (Zahlenweise) als Beiname vorkommt, hielt sie sich fast bis auf die heutigen Tage.
Bruchrechnung[]
In "De Temporum Ratione" (4) lehrt Beda die Unzen- (d.h. Bruch-) Bezeichnung direkt nach römischem Muster, gibt aber keine Rechenregeln. Um das Verhältnis 2 : 3 zu bezeichnen, sagt er (Cap. 16): „quantum VIII a XII, XX a XXX, X a XV, tertia enim parte subtracta, quoties duae solum remanent, ipsae duae partes bessis, ipsa tertia triens nuncupatur", eine für Bedas Standpunkt typische Wendung. Ein paar seiner kompliziertesten Rechnungen sind:
- (274 - 8 + 5) : 7 = 271 : 7 = 38 5/7 weil 7 X 30 = 210 und 7 X 8 = 56, Rest 5 (Cap. 22). 725 : 19 = 38 3/19., weil 19 X 30 = 570 und 19 X 8 = 152, Rest 3 (Cap. 52).
Die Beda beigelegten Schriften "De Numeris" und "De Arithmeticis Propositionibus" gehören allerdings wahrscheinlich einer viel jüngeren Zeit an.
Deutschland[]

Die Arithmetik als Teil der Freien Künste (Hortus Deliciarum, um 1180)
Im Mittelalter gehörte die Rechenkunst als Arithmetik mit zu den Sieben Freien Künsten.
Alkuin[]
Im Todesjahr von Beda Venerabilis, 735, wurde sein Landsmann Alkuin (735-804), der spätere Schüler von Bedas Freund Egbert von York, geboren. Er brachte Bedas Lehre von den Britischen Inseln auf den europäischen Kontinent, vor allem in die von Karl dem Großen errichteten Schulen. In seinen Briefen spricht er, wie bereits Isidorus Hispalensis, öfters von den Beziehungen der Zahlen zu Gegenständen der Heiligen Schrift (Zahlenmystik); es kommen aber auch z. B. in Briefen an den Kaiser Äußerungen vor, die auf Zahlenspielereien und Rechenaufgaben hindeuten.
Die figurae arithmeticae subtilitatis, die er dem Kaiser laetitiae causa zu senden verspricht, scheinen die noch vor 1000 in Reichenau abgeschriebenen, in einer Handschrift dem Alkuin beigelegten Propositiones ad acuendos juvenes zu sein, d. h. eine Reihe von Rechenrätseln mit Auflösungen. Sie beruhen meist auf Gleichungen ersten Grades, wie:
- 150 + 7x = 9x, wo x = 75 oder 2x + x/2 + x/4 + 1 = 100, wo x = 36, oder 6x/4 + 1 = 100 wo x = 66.
Von der Art der Auflösung wird nichts mitgeteilt. Eine recht komplizierte Teilungsaufgabe aus dem Römischen Recht wird unrichtig, die einfache Teilungsaufgabe, teile 8000 im Verhältnis von 2:3, dagegen richtig gelöst. Auch eine unbestimmte Aufgabe, und zwar die erste in lateinischer Sprache überlieferte, finden wir bei ihm: „Wenn 100 Scheffel unter ebenso viel Personen verteilt werden, so daß ein Mann 3, eine Frau 2 und ein Kind ½ Scheffel erhält, wie viele Männer, Frauen und Kinder waren es dann?"
- D. h. 3x + 2y + ½z = 100
- x + y + z = 100.
Von den ganzzahligen Lösungen - und nur solche werden verlangt - hat Alkuin nur x = 11, y = 15, z = 74. Ob Alkuin die Kolumnenrechnung und die sog. arabischen Zahlenzeichen (apices) gekannt hat, was man aus einer Stelle in seinen Briefen hat schließen wollen [2], ist unsicher; jedenfalls scheint er es aber in der Rechenkunst weiter gebracht zu haben als Beda.
Hrabanus Maurus[]
Zu Anfang des 9. Jhds. wurde Hrabanus Maurus (780-856) Alkuins Schüler und verpflanzte seine Lehre nach Fulda. Er schrieb eine jetzt unbekannte Arithmetik, sowie eine Osterrechnung (über De Computo) und behandelte wie Alkuin die Zahlenmystik (De Institutione Clericorum III 22; De Universo XVIII 3). Seine Ausrechnungen in den vier Rechenarten wie auch seine Fingerrechnung entsprechen ganz den Lehren Bedas. Er gibt die griechischen Zahlenzeichen sowie die Zeichen der römischen Brüche (Unzen) an.
Er zitiert Boethius' Arithmetik, Isidorus, Varro und die Osterrechnung von Anatolius. Von Euklids Elementen scheint er nur die vier ersten (geometrischen) Bücher, nicht die arithmetischen (VII-X) gekannt zu haben (s. Geometrie). Seine Definition der Arithmetik (De Institutione Clericorum III 22) scheint rein philosophisch: „arithmetica est disciplina quantitatis numerabilis secundum seipsam" (d.h. Arithmetik ist die Disziplin der Zahlenmengen als solche).
St. Gallen[]

Die Arithmetik als Planetenkind in den Artes liberales, Unibibliotek Salzburg (M III 36), 15. Jh.
Hrabanus Maurus übte auf die deutschen Klosterschulen großen Einfluss aus. Besonders gut unterrichtet sind Forscher in Bezug auf das Kloster St. Gallen.
861-895 wirkte hier der Diakon Wichram als Lehrer in der Festrechnung, über die er ein Büchlein in Fragen und Antworten schrieb. Es enthält keine eigentlichen Zahlenoperationen, ist aber auch nur als Bruchstück erhalten. Wie eifrig man in St. Gallen im Unterricht in der Festrechnung war, zeigen 25 in der Bibliothek aufbewahrte komputistische Werke sowie Tabellen (vorallem das Einmaleins, das im 10. Jh. in der Gemeinsprache hergesagt wurde), Zyklen und Gedächtnisverse.
Zu Ende des 9. oder zu Anfang des 10. Jhds. scheinen die Glossae Salomonis (Cod. Sang. 905) [3] ausgearbeitet zu sein, in denen vielfach den Euklidischen Elementen I-IV entnommene geometrische Definitionen begegnen (s. Geometrie). Es scheinen somit die arithmetischen Bücher V-VIII der Elemente nicht bekannt gewesen zu sein. Dasselbe gilt von der Arithmetik des Boethius. Von dem berühmten Notker III. Labeo (ca. 950-1022) in St. Gallen wissen wir, daß er mehrere lateinische Werke ins Deutsche übersetzte, darunter einen Teil von Martianus Capella und die Anfangsgründe der Arithmetik (wohl Boethius). Außerdem schrieb er einen Computus.
Vom arithmetischen Unterricht in St. Gallen handeln nach Cantor auch einige Verse in einem lateinischen Gedicht von Walther von Speyer aus dem Jahre 983, wo der Zahlenkampf (Ritmimachia) geschildert wird, den Boethius, um sich zu trösten, im Gefängnis erfunden haben soll; es handelt sich dabei um die Bildung der Figurenzahlen und um die drei mittleren Größen, das arithmetische, das geometrische und das harmonische Mittel der Proportionslehre. Man scheint also bereits vor Gerbert von Aurillac (950-1003) in der Mitte des 10. Jhds. zu St. Gallen Werke über die Ritmimachia ähnlicher Art wie die von Gerbert, Hermannus Contractus (1013-1054) und Fortolfus besessen zu haben. Die wichtigste Stelle bei Walther von Speyer ist indessen:
„Hierauf bringt die Geometrie die wundersamen Linien des Abakus (d.h. der Rechentafel) herbei, und mit den Zeichen die Kämpfe des Spieles beginnend, hatte sie, schnell Ordnung hineinbringend, die gegenübergestellten Körper der Zahlen in Finger- und Gelenkzahlen zerstreut.“
– Walther von Speyer
Das Abakusrechnen u. a. m.[]
Vielleicht hat man es bei der oben genannten Aussage des Walther von Speyer (963-1027) mit einer Anspielung auf das Abakusrechnen (digiti d. h. Zahlen von 1 bis 10, articuli d. h. Zahlen von 10 bis ∞) zu tun. Ob aber unser bequemes, modernes Zahlen- und Rechensystem bereits vor Gerberts, des späteren Sylvester II., Aufenthalt in Spanien und gar auf germanischem Boden eine gewisse Entwicklung erlangt hatte, oder ob der Anfang dazu erst von Gerbert von Aurillac selbst gemacht oder der europäischen Kultur aus dem arabischen Spanien zugeführt worden ist, das hängt von der Entscheidung zweier strittigen Fragen ab, nämlich ob die sog. Boethius-Geometrie, in der die arabischen Gobarziffern und das Rechnen auf dem Abakus erklärt werden, älter oder jünger ist als Gerbert, und auf germanischen oder romanischen Boden entstanden ist, und demnächst, ob und in welchem Umfang das Gelenkzahlensystem und das Abakusrechnen sich aus der Fingerrechnung entwickelt haben.
Die Auflösung der Boethiusfrage spielt eine um so wichtigere Rolle für die Beurteilung der älteren Klostergelehrsamkeit in Deutschland, als die sog. Boethiusgeometrie sicher ein Falsum ist und kaum vor Bedas Zeiten, spätestens aber kurz nach dem Jahre 1000 entstanden sein kann. Da wir nun wissen, wie früh die Euklidübersetzung bereits in Deutschland bekannt war, und zwar, wie es scheint, früher als in anderen Ländern, so ist es nicht unwahrscheinlich, daß die sog. Boethiusgeometrie ein Produkt der süddeutschen Klostergelehrsamkeit um das Jahr 1000 ist.
Jedenfalls ist deutlich zu erkennen, daß der Weg der mathematischen Wissenschaft von Osten nach Westen über Deutschland viel wichtiger gewesen ist, als man meistens denkt, wenn es sich beweisen läßt, daß die erste lateinische Euklidübersetzung schon zu Hrabanus Maurus' Zeiten diesen Weg wanderte, und daß die ersten Spuren der arabischen Terminologie im Kloster Reichenau im Astrolabium des Hermannus Contractus kurz nach dem Jahre 1000 auftreten, d. h. über 100 Jahre vor den ersten mathematischen Übersetzungen aus dem Hebräischen und Arabischen durch Plato von Tivoli (12. Jh.) und Adelard von Bath (1070-1160).
Hrosvitha von Gandersheim[]
Die Mathematik stand in Deutschland um das Jahr 1000 zwar auf keiner hohen Stufe; das Interesse daran war aber ein sehr reges. Das bezeugt schon der Umstand, daß Hrosvitha von Gandersheim (935-973) in ihren Dramen für zahlentheoretische Spekulationen Platz findet. Ihre Hauptquelle ist Boethius' Arithmetik; sie nennt aber auch Martianus Capella und Macrobius.
Im Hadrianus lässt sie die Weisheit mit ihren drei Töchtern dem Tyrannen entgegentreten und ihn durch ihre Entfaltung gelehrten Wissens beschämen und erläutert in dieser dramatischen Einkleidung nach Boethius die Einteilung der Zahlen in gerade und ungerade, sowie die der geraden Zahlen in paarpaare 2n, paarunpaare 2 (2 n + 1) und unpaarpaare 2 m (2 n + l) und die entsprechende Einteilung der ungeraden Zahlen in Primzahlen, Produkte zweier Primzahlen und relative Primzahlen. Recht eingehend erklärt sie die Einteilung der geraden Zahlen in numeri superflui, numeri perfecti undnumeri deminuti, je nachdem ob die Teilersumme größer als die Zahl, ihr gleich oder kleiner als sie ist.
Galerie[]
Quellen[]
- Geschichte des mathematischen Unterrichts im deutschen Mittelalter bis zum Jahre 1525 (OPAC). In Monum. Germ. Paedag. III, Siegmund Günther. Berlin : Hoffmann, 1887.
- Geschichte der Mathematik (Internet Archive). Moritz Benedikt Cantor. Leipzig B.G. Teubner, 1894. Bd. I (3. Aufl.), S. 775 ff.
- Die Zahlzeichen und das elementare Rechnen der Griechen und Römer und des christlichen Abendlandes vom 7. bis 13. Jahrhundert (Internet Archive). Gottfried Friedlein. Erlangen, 1869.
- Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 4 Bände (1. Aufl.). Johannes Hoops. K. J. Trübner, Straßburg 1911-1919. Bd. III, S. 463 f.
Einzelnachweise[]
- ↑ Beda der Ehrwürdige und seine Zeit (Internet Archive). Karl Werner, W. Braumüller, 1881.
- ↑ s. Cantor. aaO, S. 789
- ↑ St. Gallen Stiftsbibliothek (SGBN): Glossae Salomonis (Cod. Sang. 905)